Wer in der Renaissance-Stadt Urbino spazieren geht, wird häufig auf Touristen aufmerksam, die nach dem Rundgang im Herzogspalast mit leuchtenden Augen verkünden: „Was für eine herrliche Landschaft, welch ein Panorama!“. Landschaft als Begriff entspricht hier, eher instinktiv, der schönen Aussicht auf Täler und Dörfer, Hügel und Berge und hat bildhaften Charakter. Generell gesehen gilt Landschaft heute noch als Inbegriff von Schönheit und ästhetischer Harmonie, im weitesten Sinne auch als „Natur“, die man durch Naturparks, Reservate und Ökomuseen schützen möchte.
Dass die Landschaft aber nicht vom Menschen, seinem Einfluss und dem Lauf der Zeit getrennt werden kann, wird immer augenscheinlicher. In einem Zeitalter, in dem es immer weniger unberührte Natur gibt und äußere Eingriffe eher auf destruktive als auf konstruktive Weise erfolgen (weil wirtschaftliche Berechnungen an erster Stelle stehen), entsteht bei vielen Menschen auch eine feine Sensibilität für das Charakteristische, Typische einer Gegend und für das Lebendige darin. Es wächst der Wunsch, aus zerstückelten Wohn- und Industriegebieten, industrialisierten Agrarlandschaften und wilden, sich selbst überlassenen Arealen ein Ganzes werden zu lassen, das im besten Falle den „Genius loci“ ausdrückt, aber auch von seinen Bewohnern konkrete Präsenz, Dynamik und Verantwortung erfordert.
Landschaft ist heute also mehr denn je ein aktiver, kreativer Prozess, an dem jeder Teil haben kann, solange er und sie ein Bewusstsein, ein Empfinden dafür entwickeln.
Aus dem Zusammenwirken zwischen Pflanze und Mensch, Mineralreich und Tierreich, geologischen, geographischen und klimatischen Bedingungen entspringt, was wir äußerlich als Landschaft wahrnehmen. Eine Landschaft besteht also aus ländlichen Gegenden, die landwirtschaftlich genutzt werden oder brach liegen, aus Wald und Wildwuchs, aus bewohnten Zonen, vom Weiler zur Metropole – aber auch aus dem Miteinander und Nebeneinander von Industriegebieten, Verkehrsadern, historischen Bauten und Brücken sowie Wasserläufen, Seen und Staudämmen. Auch Anlagen zur Energieproduktion, Wasserkraft- und Atomkraftwerke prägen heute unsere Landschaften.
Landschaft „von innen“ her betrachten
Wenn man sich in einer neuen, ungewohnten Gegend die Frage nach einer Einheit, dem Ganzen der Landschaft stellt, öffnet man sich bewusst oder unbewusst auch Antworten, die nicht nur mit „Was“ oder „Warum“, sondern eher mit dem „Wie“ und „Woher“ und „Wohin“ zusammenhängen. Während wir das Äußere durch die Sinne wahrnehmen, können wir innerlich aufmerksam werden auf Qualitäten, die in der Betrachtung in uns aufleben. Sie „sprechen zu uns“ aus Beziehungen, Zusammenhängen, nicht so sehr aus statischen Zuständen. Um in einen echten Dialog mit einer Landschaft (oder einer Pflanze) zu treten, sollte man schnelles Beurteilen und Begriffe-Finden vermeiden und sich auf einen Prozess einlassen, der auf verschiedenen Eben innen und außen stattfindet.
Im Allgemeinen steigt eine innere Ahnung der Ganzheit auf, wenn eine Gegend oder eine Pflanze uns besonders berühren, Erinnerungen und Empfindungen erwecken, zu Überlegungen anregen oder gar zum unmittelbaren Ein-Greifen einladen. Eine erweiterte Landschaftswahrnehmung entsteht in der Begegnung zwischen dem äußeren Eindruck und unserer innerer Aktivität. Die Landschaft scheint sich ständig zu verändern, und doch scheinen ab einem gewissen Moment universelle, archetypische Eigenschaften durch, über die wir uns mit anderen austauschen können.
Landschaft ist also kein Zustand, die Beurteilung ihrer Lebewesen und Abläufe ist ein erster Schritt. Sie wird aber dann zum fließenden Begreifen, das im Jahreslauf, ganz allgemein im Vergehen der Zeit, verschiedenartig erscheint und durch all jene Faktoren beeinflusst wird, die man bewusst und auch unbewusst wahrnimmt. Es sind dies Faktoren, die auch uns, Betrachter und Landschafts- oder Heilpflanzenforscher, ständig beeinflussen. Sie sind auf das Engste mit dem Lebendigen verbunden sind.
Während der Arbeit an diesem Buch, bin ich jeder Pflanze, ob Baum, Heilpflanze oder Gewürzkraut, auf folgender Weise begegnet: verrate du mir, was du als Wesen in die Landschaft trägst, wie du es anderen Pflanzen, Tieren, Menschen und dem gesamten Lebensbereich mitteilst durch dein Wachsen und Vergehen, und zeige mir, was aufgenommen wurde in Zeit und Raum. Auf diese Weise, von der Pflanze aus betrachtet, entstand Landschaft immer wieder neu in mir, und jede Pflanze blieb innerlich lebendig, nie „abgetötet“ durch pure Definition. Dass eine solche Betrachtungsweise leicht abrutschen kann ins Subjektive, bzw. zu Interpretationen verführt, die nicht immer allgemeingültig sein mögen, scheint mir heute – für den wachen Forschergeist – eher von Vorteil! Im nachfolgenden Text werden Schritte vorgestellt, die uns helfen, uns einer Pflanze und der Landschaft auf ganzheitliche Weise zu nähern, durch kontemplative, vergleichende und kreative Methoden. (…)
Betrachtungsübung in einem sommerlichen Lavendelfeld
Mitte Juli, ich streife gegen 10 Uhr morgens durch die Reihen auf einem Lavendelfeld Als erstes fällt mir der Duft des fast verblühten Krautes auf („würzig, öffnet die Nase, wirkt einhüllend und klärend zugleich, erinnert mich an Samt und Mottenkugeln“). Meine Überlegung ist auch: „Was für ein starker Duft, die Pflanzen sind immer noch voll von ätherischem Öl“ .
Nun trete ich innerlich einen Schritt von diesem „Urteil“ zurück (ich kann ja nicht sehen, ob die Öle wirklich da sind) und frage mich: „Woher kommt dieser Duft, aus welchen Teilen der Pflanze?“ Ich reibe an Blüten, Stängeln und Blättern und habe unterschiedliche Tast- und Geruchserlebnisse, die mich dazu führen, genauer hin zu blicken: sehe ich eigentlich Öldrüsen (mir fallen die des Johanniskrautes ein)? Wo ist denn der Duft enthalten? Dann entferne ich mich wieder von der Pflanze: „Von wo genau kommt mir der Duft entgegen?“ Ich merke, dass es „Duftwolken“ sind, die sich nicht an bestimmten Pflanzenorganen festmachen lassen, sondern beim Erlebnis von der ganzen Pflanze ausgehen. Das sagt doch etwas aus über Qualitäten des Lavendelöls! Der Duft schwebt in der Luft, umgibt die Pflanzen während der Erwärmung und strahlt nach außen (verdampft) – eine typisch „luftige“ Eigenschaft der Essenz. Gegen 11 Uhr kann ich fast keinen Duft mehr feststellen.
Dieses Lavendelfeld wird biologisch-dynamisch bewirtschaftet, und der Bauer erzählt, wie er die Präparate ausbringt. Ob Intensität und Qualität des Duftes auch damit zusammenhängen?
(Aus: „Ars Herbaria, Heilpflanzen im Jahreslauf“ Verlag am Goetheanum, Dornach 2014“)